Vortrag über Ethik

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Bevor ich zum eigentlichen Thema komme, erlauben Sie mir ein paar einleitende Worte. Gefühlt werde ich große Schwierigkeiten haben, Ihnen meine Gedanken zu kommunizieren, und einige dieser Schwierigkeiten könnten, glaube ich, etwas geringer werden, indem ich sie im Vorfeld anspreche.

Die erste, die ich kaum anzusprechen brauche, besteht darin, dass Englisch nicht meine Muttersprache ist und dass meine Ausdrucksweise daher oft an der Genauigkeit und Geschicklichkeit fehlt, die bei einem Vortrag über ein schwieriges Thema wünschenswert wären. Ich kann Sie also nur bitten, mir meine Aufgabe zu erleichtern, indem Sie sich bemühen, trotz der stetig von mir begangenen Verstöße gegen die englische Grammatik den Sinn meiner Worte zu verstehen. Die zweite Schwierigkeit, die ich ansprechen möchte, besteht darin, dass viele von Ihnen wohl mit etwas unrichtigen Erwartungen zu diesem Vortrag kommen. Und um diesen entgegenzuwirken, möchte ich einige Worte zur Begründung der Wahl des von mir gewählten Themas sagen: Als mich Ihr ehemaliger Vorsitzender mit der Bitte ehrte, Ihrem Verein einen Vortrag zu halten, war mein erster Gedanke, dass ich dieser Bitte bestimmt nachkommen würde, und mein zweiter Gedanke war, dass ich bei dieser Gelegenheit ein Thema wählen sollte, das ich Ihnen gerne kommunizieren möchte, und dass ich diese Gelegenheit nicht missbrauchen dürfte, indem ich Ihnen etwa einen Vortrag über Logik halte. Ich nenne das einen Missbrauch; denn die Erklärung eines wissenschaftlichen Gegenstands bedürfte nicht eines einstündigen Vortrags, sondern einer ganzen Reihe von Vorträgen. Eine weitere Alternative wäre, Ihnen einen sogenannten populärwissenschaftlichen Vortrag zu halten, das heißt: einen Vortrag, der einerseits Ihnen glauben machen will, dass Sie etwas verstehen, was Sie in Wirklichkeit gar nicht verstehen, und der andererseits einen der meines Erachtens gemeinsten Wünsche moderner Menschen befriedigt, nämlich: die oberflächliche Neugierde auf die jüngsten Entdeckungen der Wissenschaften. Ich habe mich gegen diese Alternativen und für ein Vortragsthema entschieden, das mir von grundsätzlicher Bedeutung zu sein scheint und mit dem ich Ihnen hoffentlich helfen kann, über die eigenen Gedanken zu diesem Thema Klarheit zu erlangen (auch wenn Sie mir gar nicht zustimmen). Meine dritte und letzte Schwierigkeit ist eine, die tatsächlich den meisten etwas längeren philosophischen Vorträgen anhaftet, und diese besteht darin, dass der Zuhörer nicht gleichzeitig den Weg, auf dem er geführt wird, und das Ziel, zu dem dieser führt, erkennen kann. Das heißt: Man denkt entweder, »Ich verstehe jedes Wort, habe aber keine Ahnung, worauf er hinaus will«, oder man denkt, »Ich sehe, worauf er hinaus will, habe aber keine Ahnung, wie er dorthin kommen sollte«. Auch hier kann ich Sie nur um Geduld bitten und hoffen, dass Sie am Ende beides sehen, den Weg und das Ziel.

Nun komme ich zum Thema. Wie Sie wissen, ist dieses die Ethik und ich möchte die Erklärung dieses Begriffs übernehmen, die Professor Moore in seinem Buch Principia Ethica ausführte. Dort sagt er: Die Ethik sei »die allgemeine Untersuchung dessen, was gut ist«.[1] Nun verwende ich den Begriff der Ethik in einem etwas weiteren Sinne – tatsächlich in einem Sinne, der meiner Auffassung nach den wesentlichsten Teil dessen umfasst, was grundsätzlich Ästhetik heißt. Und damit Sie möglichst klar sehen, was meines Erachtens der Gegenstand der Ethik ist, führe ich Ihnen eine Anzahl mehr oder minder synonymer Ausdrücke an, die jeweils durch die vorgenannte Definition ersetzt werden könnten; und dadurch möchte ich etwas wie dieselbe Wirkung herbeiführen, die Galton herbeifuhr, als er ein und dieselbe fotografische Platte mit einer Anzahl verschiedener Einzelporträts belichtete, um ein Bild der typischen, all diesen Porträts gemeinsamen Merkmale zu erhalten. Und wie ich Ihnen anhand einer solchen Kollektivfotographie das typische – sagen wir – chinesische Gesicht zeigen könnte, so können Sie hoffentlich bei Durchsicht der Ihnen von mir angeführten Reihe der Synonyme die charakteristischen, all diesen gemeinsamen Merkmale sehen und das sind die charakteristischen Merkmale der Ethik.

Nun, anstatt zu sagen, »die Ethik ist die Untersuchung dessen, was gut ist«, hätte ich sagen können, die Ethik ist die Untersuchung dessen, was wertvoll ist oder was sehr wichtig ist; oder aber ich hätte sagen können, die Ethik ist die Untersuchung des Sinns des Lebens oder des lebenswerten Lebens oder des richtigen Lebens. Ich glaube, wenn Sie sich all diese Phrasen anschauen, bekommen Sie eine ungefähre Idee des Gegenstands der Ethik. Bei all diesen Ausdrücken ist das erste, was einem auffällt, dass sie tatsächlich in zwei sehr unterschiedlichen Sinnen verwendet werden. Ich bezeichne sie einerseits als den trivialen bzw. relativen Sinn und andererseits als den ethischen bzw. absoluten Sinn. Sage ich zum Beispiel, dies ist ein guter Stuhl, so heißt das, der Stuhl dient einem bestimmten vorgegebenen Zweck, wobei das Wort »gut« nur eine Bedeutung hat, sofern dieser Zweck im Vorfeld bestimmt wurde. In der Tat bedeutet das Wort gut im relativen Sinne »einem vorgegebenen Maßstab entsprechen«. Wenn wir also sagen, dieser Mann ist ein guter Klavierspieler, so meinen wir, dass er Klavierstücke eines bestimmten Schwierigkeitsgrads mit einem bestimmten Grad an Fingerfertigkeit spielen kann. Und wenn ich in ähnlicher Weise sage, mir ist wichtig, dass ich mich nicht erkälte, so meine ich, dass eine Erkältung mein Leben auf bestimmte, beschreibbare Art und Weise beeinträchtigt; und wenn ich sage, das ist die richtige Straße, so meine ich, dass diese Straße bezogen auf ein bestimmtes Ziel die richtige ist. So verwendet, stellen diese Ausdrücke keine schwierigen oder tiefen Probleme dar. Aber so verwendet die Ethik diese nicht.

Nehmen wir an, ich könnte Tennis spielen und einer von Ihnen beobachtete mich dabei und sagte zu mir: »Sie spielen aber schlecht«. Und nehmen wir an, ich antwortete: »Ich weiß, dass ich schlecht spiele, will aber nicht besser spielen«. Der andere könnte nur antworten: »O, dann ist ja gut«. Aber nehmen wir an, ich erzählte einem von Ihnen eine absurde Lüge und dieser käme zu mir und sagte, »Sie verhalten sich wie ein Vieh« und ich antwortete, »ich weiß, dass ich mich schlecht verhalte, will mich aber nicht besser verhalten«. Könnte dieser in diesem Fall sagen, »O, dann ist ja gut«? Bestimmt nicht; er würde sagen, »Sie sollten sich besser verhalten wollen«. Hier hat man ein absolutes Werturteil, während beim ersten Beispiel ein relatives Urteil vorlag. Im Wesentlichen scheint der Unterschied freilich darin zu bestehen, dass jedes Urteil relativen Werts eine bloße Tatsachenbehauptung ist und sich daher so formulieren lässt, dass der Anschein eines Werturteils nicht erweckt wird: Anstatt »das ist der richtige Weg nach Granchester« zu sagen, hätte ich auch sagen können, »dies ist der richtige Weg, wenn Sie so schnell wie möglich nach Granchester kommen möchten«; »der Mann ist ein guter Läufer« heißt lediglich, dass er eine bestimmte Anzahl von Meilen innerhalb einer bestimmten Anzahl von Minuten laufen kann etc. Was ich jetzt behaupten möchte, ist dies: Obwohl sich alle Urteile relativen Werts auch als bloße Tatsachenbehauptungen formulieren lassen, kann keine Tatsachenbehauptung ein Urteil absoluten Werts sein oder implizieren.

Erlauben Sie mir, dies zu erklären: Nehmen wir an, dass einer von Ihnen allwissend wäre und daher aller Bewegungen aller Körper auf Erden, tot oder lebendig, kannte und dass dieser auch alle Geisteszustände aller Menschen aller Zeiten kannte. Und nehmen wir auch an, dieser Mensch schriebe sein ganzes Wissen in einem großen Buch nieder – in diesem Fall enthielte das Buch die vollständige Weltbeschreibung; und was ich sagen möchte, ist, dass dieses Buch weder etwas enthielte, was wir als ethisches Urteil bezeichnen würden, noch etwas, was ein solches Urteil logisch implizierte. Freilich enthielte es alle relativen Werturteile und alle wahren wissenschaftlichen Sätze, ja alle wahren Sätze, die sich formulieren lassen. Aber alle beschriebenen Tatsachen wären gleichsam miteinander gleichgestellt und in gleicher Weise wären alle Sätze miteinander gleichgestellt. Es gibt keine Sätze, die im absoluten Sinne erhaben, wichtig oder trivial sind. Einige von Ihnen stimmen mir vielleicht in diesem Punkt zu und entsinnen sich der Worte Hamlets: »An sich ist nichts weder gut noch böse, das Denken macht es erst dazu«.[2] Aber dies könnte wiederum zu einem Missverständnis führen. Aus den Worten Hamlets scheint hervorzugehen, dass das Gute und das Böse keine uns externen Eigenschaften der Welt sind, sondern Attribute unserer Geisteszustände. Dahingegen meine ich, dass ein Geisteszustand – insofern wir damit eine Tatsache bezeichnen, die wir beschreiben können – in keinem ethischen Sinne gut oder böse ist. Wenn wir zum Beispiel in unserem Weltbuch eine Beschreibung eines Mords lesen, samt aller seiner Einzelheiten, der physikalischen wie der psychologischen, enthält die bloße Beschreibung dieser Tatsachen nichts, was wir als ethischen Satz bezeichnen könnten. Der Mord ist mit allen anderen Ereignissen gleichgestellt, wie zum Beispiel mit dem Fallen eines Steins. Gewiss, die Lektüre dieser Beschreibung hätte bei uns Schmerz oder Zorn oder ein anderes Gefühl hervorrufen können oder wir hätten über den Schmerz oder den Zorn lesen können, den dieser Mord bei anderen Menschen hervorgerufen hat, als sie von ihm erfahren haben; aber das sind nichts anderes als Tatsachen, Tatsachen und Tatsachen, aber keine Ethik.

Und nun muss ich sagen, dass mir dieses Ergebnis – wenn ich mir überlege, was die Ethik hätte sein müssen, wenn es eine solche Wissenschaft überhaupt gäbe – ganz offensichtlich scheint. Offensichtlich scheint mir, dass nichts, was wir uns jemals denken oder was wir jemals sagen könnten, die Sache sein könnte. Dass wir kein wissenschaftliches Buch, dessen Gegenstand an und für sich erhaben und über allen anderen Gegenständen gestellt wäre – mein Gefühl kann ich nur durch folgende Metapher beschreiben: Wenn man ein Buch über die Ethik schreiben könnte, das tatsächlich ein Buch über die Ethik wäre, so vernichtete dieses Buch alle anderen Bücher der Welt, mit einer Explosion. Die verwendeten Worte, wie wir sie in der Wissenschaft verwenden, sind Behälter, die nur Sinn und Bedeutung – das heißt: natürlicher Sinn und natürliche Bedeutung – enthalten und vermitteln können. Die Ethik, wenn sie überhaupt etwas ist, ist übernatürlich und unsere Worte drücken nur Tatsachen aus; wie eine Teetasse nur eine Teetasse voll Wasser hält, auch wenn ich eine Liter Wasser reingeschüttet hätte.

Ich habe gesagt: Sofern es sich um Tatsachen und Sätze handelt, gibt es nur relativen Wert und das relativ Gute, Richtige etc. Und bevor ich weiter ausführe, erlauben Sie mir dies anhand eines ziemlich offensichtlichen Beispiels zu veranschaulichen. Die richtige Straße ist die Straße, die zu einem willkürlich vorgegebenen Ziel führt, wobei es uns allen vollkommen klar ist, dass es keinen Sinn ergibt, unabhängig von diesem vorgegebenen Ziel von der richtigen Straße zu reden. Nun versuchen wir mal festzustellen, was wir eventuell mit dem Ausdruck »die absolut richtige Straße« meinen könnten. Ich glaube, sie wäre die Straße, bei deren Anblick allein alle mit logischer Notwendigkeit betreten müssten bzw. sich schämen müssten, wenn sie sie nicht beträten. Und ähnlich beim absolut Guten: Das absolut Gute, wenn es ein beschreibbarer Sachverhalt ist, wäre einer, den alle unabhängig von ihrem Geschmacksempfinden und ihren Neigungen notwendig herbeiführten bzw. notwendig ein schlechtes Gewissen hätten, wenn sie diesen nicht herbeiführten. Und ich will sagen, ein solcher Sachverhalt ist eine Chimäre. An sich hat kein Sachverhalt das, was ich als Zwangsgewalt eines absoluten Richters bezeichnen möchte. Was schwebt uns allen dann vor, wenn Menschen, wie ich, noch Ausdrücke wie »das absolut Gut«, »absoluter Wert« etc. verwenden wollen – was schwebt uns im Geist vor und was versuchen wir da zum Ausdruck zu bringen?

Nun wenn ich versuche, mir dies klar zu machen, ist es normal, dass ich mich Fälle entsinne, in denen ich bestimmt diese Ausdrücke verwenden würde, wobei ich mich dann in die Lage versetze, in der Sie sich auch befänden, wenn ich Ihnen zum Beispiel über die Psychologie der Lust einen Vortrag gehalten hätte. Hier hätten Sie versucht, sich einer typischen Situation zu entsinnen, in der Sie stets Lust fühlen. Denn beim Vorschweben dieser Situation im Geiste würde alles, was ich Ihnen sagte, konkret und gleichsam nachprüfbar. Als Paradebeispiel wählte man vielleicht die Empfindung beim Spaziergang an einem schönen Sommertag. Nun in dieser Situation befinde ich mich, wenn ich mein geistiges Auge darauf richten möchte, was ich mit absolutem oder ethischem Wert meine. Und in meinem Fall präsentiert sich immer wieder die Idee eines bestimmten Erlebnisses, die daher in einem Sinne mein Erlebnis par excellence ist, und aus diesem Grund möchte ich dieses Erlebnis als Paradebeispiel im Rahmen dieses Vortrags anführen. (Wie schon gesagt, ist dies ganz persönlich und andere würden andere Beispiele plakativer finden). Ich möchte dieses Erlebnis beschreiben, damit Sie sich womöglich desselben oder ähnlicher Erlebnisse entsinnen, sodass wir womöglich einen gemeinsamen Grund für unsere Untersuchung haben; dieses Erlebnis lässt sich, glaube ich, am besten wie folgt beschreiben: Wenn ich es habe, bin ich über die Existenz der Welt erstaunt. Und dann neige ich zur Verwendung solcher Phrasen wie »wie außerordentlich, dass überhaupt etwas existiert« oder »wie außerordentlich, dass die Welt existiert«. Ich möchte auch ein weiteres Erlebnis nennen, das mir bekannt ist und das vielleicht auch einige von Ihnen kennen: Dieses Erlebnis ist, könnte man sagen, das Erlebnis des Gefühls der absoluten Sicherheit. Ich meine den Geisteszustand, in dem man zu sagen geneigt ist, »ich bin sicher, nichts kann mir schaden, egal was geschieht«.[3] Nun erlauben Sie mir, diese Erlebnisse näher zu betrachten, da sie, glaube ich, genau die Merkmale aufweisen, über die wir Klarheit erlangen möchten. Und hier ist das Erste, was ich sagen möchte, dies: Der sprachliche Ausdruck, den wir diesen Erlebnissen verleihen, ist Unsinn!

Wenn ich sage, »ich bin über die Existenz der Welt erstaunt«, so missbrauche ich die Sprache. Ich möchte dies so erklären: Die Worte, ich bin darüber erstaunt, dass etwas der Fall ist, ergeben einen vollkommen guten und klaren Sinn; wir alle verstehen, was die Worte bedeuten: Ich bin über die Größe eines Hundes erstaunt, der größer ist als jeder, den ich bisher gesehen habe, oder über etwas, das im gewöhnlichen Sinne des Worts außerordentlich ist. In diesen Fällen bin ich darüber erstaunt, dass etwas der Fall ist, da ich dies auch als etwas auffassen könnte, das nicht der Fall ist. Ich bin über die Größe dieses Hundes erstaunt, weil ich mir einen Hund einer anderen – nämlich: einer gewöhnlichen – Größe vorstellen könnte, über deren Größe ich nicht erstaunt wäre. Die Worte »ich bin darüber erstaunt, dass dies und jenes der Fall ist« ergeben nur Sinn, wenn ich mir vorstellen kann, dass es nicht der Fall ist. In diesem Sinne kann man etwa über die Existenz eines Hauses erstaunt sein, wenn man es sieht und seit langem nicht mehr drin war und sich gedacht hat, dass es mittlerweile abgerissen wurde. Aber die Worte, ich bin über die Existenz der Welt erstaunt, sind Unsinn, da ich mir nicht vorstellen kann, dass sie nicht existiert. Ich könnte natürlich darüber erstaunt sein, dass die Welt um mich herum ist, wie sie ist. Wenn ich zum Beispiel beim Starren in den blauen Himmel dieses Erlebnis hätte, könnte ich darüber erstaunt sein, dass der Himmel blau ist – im Gegensatz zu dem Fall, dass er bewölkt ist. Aber das meine ich nicht. Ich bin über den Himmel erstaunt, dass er ist, wie auch immer er sein mag. Man will vielleicht sagen, dass das, worüber ich erstaunt bin, eine Tautologie ist, nämlich: darüber, dass der Himmel blau oder nicht blau ist. Aber zu sagen, dass man über eine Tautologie erstaunt ist, ist einfach Unsinn.

Nun gilt das Gleiche für das andere von mir angeführte Erlebnis, das Erlebnis der absoluten Sicherheit. Im gewöhnlichen Leben wissen wir alle, was es heißt, sicher zu sein. In meinem Zimmer bin ich sicher, wenn ich von einem Omnibus nicht überfahren werden kann. Ich bin sicher, wenn ich Keuchhusten hatte und ihn daher nicht wieder kriegen kann. Im Wesentlichen heißt »sicher sein«, dass es physikalisch unmöglich ist, dass mir bestimmte Dinge geschehen, und daher ist es Unsinn zu sagen, dass ich sicher bin, egal was geschieht. Wie das andere Beispiel ein Missbrauch des Worts »Existenz« bzw. »erstaunen« war, ist dies auch ein Missbrauch des Worts »sicher«. Nun möchte ich Sie darauf hinweisen, dass ein bestimmter charakteristischer Missbrauch unserer Sprache durch alle ethischen und religiösen Ausdrücke zieht.

All diese Ausdrücke scheinen prima facie nur Gleichnisse zu sein. So scheinen wir das Wort richtig im ethischen Sinne zu verwenden, obwohl wir das Wort richtig nicht im trivialen Sinne meinen – es ist etwas ähnliches; und wenn wir sagen, »das ist ein guter Kerl«, obwohl das Wort gut hier nicht dieselbe Bedeutung hat wie im Satz, »das ist ein guter Fußballer«, so scheint eine gewisse Ähnlichkeit zu bestehen. Und wenn wir sagen, »dieser Mann führte ein wertvolles Leben«, meinen wir dies nicht in demselben Sinn, in dem wir von einem wertvollen Schmuck sprechen würden, auch wenn eine Art Analogie scheinbar besteht. In diesem Sinne werden alle religiösen Begriffe nun scheinbar als Gleichnisse oder Allegorien verwendet. Denn wenn wir von Gott reden und davon, dass er alles sieht, und wenn wir uns niederknieen und zu ihm beten, sind alle unserer Begriffe und Handlungen scheinbar Teile einer großen und umfangreichen Allegorie, die ihn als Mensch großer Macht darstellt, dessen Gnade wir für uns gewinnen möchten etc., etc. Aber diese Allegorie beschreibt auch das gerade von mir genannte Erlebnis. Denn das erste Erlebnis ist, glaube ich, genau das, was die Menschen damals mit den Worten, Gott erschuf die Welt, gemeint haben; und das Erlebnis der absoluten Sicherheit wurde dadurch beschrieben, dass wir uns in Gotteshand sicher fühlen.[4] Ein drittes Erlebnis derselben Art ist das des Schuldgefühls und dies wurde wiederum durch die Phrase beschrieben, dass Gott unser Verhalten missbilligt. Scheinbar verwenden wir also konstant Gleichnisse in der ethischen und religiösen Sprache. Aber ein Gleichnis muss ein Gleichnis für etwas sein. Und wenn ich eine Tatsache durch ein Gleichnis beschreiben kann, muss ich auch in der Lage sein, auf das Gleichnis zu verzichten und die Tatsachen ohne das Gleichnis zu beschreiben. Dahingegen gilt in unserem Fall: Sobald wir versuchen, auf das Gleichnis zu verzichten und die hinter ihm stehenden Tatsachen zu erklären, stellen wir fest, dass es keine solchen Tatsachen gibt. Und was also zunächst als Gleichnis aussah, scheint nun bloßer Unsinn zu sein.

Also für die, die sie erlebt haben – ich zum Beispiel – scheinen die drei von mir angeführten Erlebnisse (ich hätte auch weitere anführen können) in irgendeinem Sinne einen intrinsischen, absoluten Wert zu haben. Aber wenn ich sage, sie sind Erlebnisse, sind sie dann sicherlich Tatsachen; sie haben dann und dort stattgefunden, hatten eine bestimmte Dauer und lassen sich somit beschreiben. Und aufgrund meiner Argumentation vor einigen Minuten muss ich eingestehen, dass es Unsinn ist, diesen einen absoluten Wert zuzuschreiben. Und ich möchte mein Fazit noch akuter formulieren: »Es ist das Paradox, dass ein Erlebnis, eine Tatsache, scheinbar einen übernatürlichen Wert hat«. Es gibt nun eine Art und Weise, in der ich versucht wäre, auf dieses Paradox zu antworten.

Erlauben Sie mir zunächst, unser erstes Erlebnis des Erstaunens über die Existenz der Welt noch einmal in Betracht zu ziehen; und erlauben Sie mir, dies leicht anders zu beschreiben; im gewöhnlichen Leben wissen wir alle, was man als Wunder bezeichnen würde. Freilich ist es einfach ein Ereignis, dessen gleichen wir noch nie gesehen haben. Nun nehmen wir an, es hätte sich ein solches Ereignis zugetragen. Plötzlich wuchs einem von Ihnen ein Löwenkopf und er brüllte.[5] Etwas Außergewöhnlicheres kann ich mir kaum noch vorstellen. Sobald wir von unserer Überraschung erholt haben, wäre mein Vorschlag, einen Arzt zu holen und den Fall wissenschaftlich untersuchen zu lassen und diesen Menschen vivisezieren zu lassen, wenn es ihm nicht geschadet hätte. Und wo ist das Wunder jetzt hin? Denn es ist klar, dass bei dieser Betrachtungsweise alles Wunderbare verschwunden ist – soweit wir mit diesem Begriff nicht lediglich meinen, dass sich eine Tatsache noch nicht durch die Wissenschaft erklären lässt, was wiederum heißt, dass wir diese Tatsache bisher nicht mit weiteren Tatsachen in einem wissenschaftlichen System vereinbaren könnten. Dies zeigt die Absurdität der Behauptung, die Wissenschaft habe bewiesen, dass es keine Wunder gibt. Die Wahrheit ist, die wissenschaftliche Betrachtung einer Tatsache ist nicht für die Betrachtung einer Tatsache als Wunder geeignet. Denn es ist gleichgültig, welche Tatsache Sie sich vorstellen; sie ist nicht an sich wunderbar im absoluten Sinne dieses Begriffs. Hier sehen wir nun, dass wir das Wort »Wunder« in einem relativen und in einem absoluten Sinne verwendet haben. Und jetzt möchte ich das Erlebnis des Erstaunens über die Existenz der Welt so beschreiben: Es ist das Erlebnis, die Welt als Wunder zu sehen. Hier will ich sagen, dass der richtige, sprachliche Ausdruck für das Wunder der Existenz der Welt nicht in einem Satz in der Sprache liegt, sondern in der Existenz der Sprache selbst. Aber was heißt das, sich dieses Wunder nur zeitweise bewusst zu sein? Denn indem ich den Ausdruck des Wunderbaren von einem Ausdruck durch die Sprache auf den Ausdruck der Existenz der Sprache verschiebe, habe ich nichts anderes gesagt, als dass wir nicht das ausdrücken können, was wir ausdrücken wollen, und dass alles, was wir über das absolut Wunderbare sagen, Unsinn bleibt.

Die Antwort auf das alles wird den meisten von Ihnen vollkommen klar sein. Sie werden sagen: Nun, wenn uns bestimmte Erlebnisse ständig versuchen, diesen eine Eigenschaft zuzuschreiben, die wir absoluten oder ethischen Wert bzw. absolute oder ethische Wichtigkeit nennen, so zeigt dies lediglich, dass wir mit diesen Worten nichts Unsinniges meinen – dass das, was wir schließlich meinen, wenn wir sagen, dass ein Erlebnis einen absoluten Wert hat, eine Tatsache ist wie andere Tatsachen auch und dass das alles nichts anderes bedeutet, als dass es uns noch nicht gelungen ist, die korrekte logische Analyse von dem gefunden zu haben, was wir mit unseren ethischen und religiösen Ausdrücken meinen. Bei diesem Einwand sehe ich sofort klar, gleichsam mich ein Licht umstrahlend, nicht nur, dass sich keine denkbare Beschreibung als Beschreibung dessen eignete, was ich mit absolutem Wert meine, sondern auch, dass ich ab initio aufgrund ihrer Sinnhaftigkeit jede sinnvolle Beschreibung, was immer man mir vorschlagen mag, ablehnen würde.[6] Das heißt: Ich sehe jetzt, dass diese unsinnigen Ausdrücke nicht deswegen unsinnig waren, weil ich noch nicht die korrekten Ausdrücke gefunden habe, sondern dass ihrer Unsinnigkeit ihr Wesen war.

Denn durch sie wollte ich nur über die Welt hinausgehen; das heißt: über die sinnvolle Sprache hinaus. Meine ganze Tendenz – und ich glaube, die Tendenz aller Menschen, die jemals versucht haben, über die Ethik oder Religion zu sprechen oder zu schreiben – bestand darin, gegen die Grenze der Sprache anzurennen. Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist vollkommen, absolut hoffnungslos. Die Ethik, sofern sie einem Wunsch entspringt, etwas über den endgültigen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann keine Wissenschaft sein. Was sie sagt, führt zu keinen neuen Erkenntnissen in irgendeinem Sinne. Aber sie ist ein Nachweis einer Tendenz im menschlichen Geiste, vor der ich für mein Teil nur den Hut ziehen kann und über die ich mich nie im Leben lustig machen würde.



  1. Anm. d. Übers.: G.E. Moore, Principia Ethica. []: SophiaOmni, 2017, § 2 (Seite 10). Deutsch nach: G.E. Moore, Principia Ethica. Erweiterte Ausgabe. Übersetzt von Burkhard Wisser Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co., 1996., § 2 (Seite 30).
  2. Anm. d. Übers.: Deutsch nach: William Shakespeare. Hamlet, Prinz von Dänemark. In Tragödien, herausgegeben von Günter Klotz, übersetzt von August Wilhelm Schlegel, Dorothea Tieck und Wolf Graf Baudissin 263–387. Berlin: aufbau taschenbuch, 2009, Seite 303 (Akt 2, Szene 2).
  3. Anm. d. Übers.: Dies – »egal, was geschieht« – ist eine Anspielung auf die Komödie in drei Akten Die Kreuzelschreiber von Ludwig Anzengruber (1839–89). Belegt in: Hans Biesenbach, Anspielungen und Zitate im Werk Ludwig Wittgensteins. Erweiterte Ausgabe. Sofia: Sofia University Press, 2014, Seiten 21–23.
  4. Anm. d. Übers.: Die Übersetzung des Verbs »to create« mit »erschaffen« ruht auf einem Gespräch zwischen Wittgenstein und Waismann, das wiedergegeben wurde, in Brian McGuinness, hrsg. Ludwig Wittgenstein und der Wiener Kreis: Gespräche, aufgezeichnet von Friedrich Waismann. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1967, Seite 118: Wittgenstein: Daß hier ein Zusammenhang besteht, haben die Menschen gefühlt und das so ausgedrückt: Gottvater hat die Welt erschaffen, Gott-Sohn (oder das Wort, das von Gott ausgeht) ist das Ethische. […] Dem ersten Anschein nach stimmt diese Wortwahl mit der Wortwahl, die heute in der Einheitsübersetzung der Bibel (sprich: in der katholischen Bibel) enthalten ist: »Im Anfang erschuf Gott […]« (Genesis 1,1) [Hervorhebung diesseits]. Dahingegen lautet die Wortwahl in der lutherischen Bibel so: »Am Anfang schuf Gott […]« [Hervorhebung diesseits]. Bei diesem Umstand häufen sich Fragen, unter anderem: Sollte Wittgensteins Wortwahl tatsächlich katholisch sein? Wie lautet diese Stelle in der damaligen katholischen Bibel? in Österreich? Hatte Waismann die Worte Wittgensteins in leicht abgeänderter Form aufgezeichnet? Während diese und weiteren Fragen interessante Problemstellungen für die künftige Forschung darstellen, sprengten jede Ausführung zu ihnen den Rahmen einer Anmerkung. Dieser Umstand ist nur deswegen im Rahmen dieser Übersetzung von Belang, weil diese Wortwahl auf eine weitere, nachstehende Stelle der Übersetzung wirkt. Siehe die nachstehende Anm. d. Übers. Nr. 6.
  5. Anm. d. Übers.: Vergleiche § 7 von Moores Principia Ethica: »Wir können z. B. einem Menschen klarmachen, was eine Chimäre ist, obwohl er nie davon gehört oder eine gesehen hat. Wir können ihm sagen, daß es ein Tier mit Kopf und Körper einer Löwin ist […]« (Deutsch nach: G.E. Moore, Principia Ethica. Erweiterte Ausgabe. Übersetzt von Burkhard Wisser Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co., 1996., § 7 (Seite 37)).
  6. Anm. d. Übers.: Die Worte »flash of light« (hier: »ein Licht umstrahlend«) sind wohl eine Anspielung auf die in der Apostelgeschichte beschriebenen Bekehrung des Saulus (9,3). Angesichts des in der vorstehenden Anmerkung 4 skizzierten Umstands und vorbehaltlich weiterer Forschung muss man eine Entscheidung treffen, ob die Worte »flash of light« nach der einheitlichen (katholischen) oder nach der lutherischen Bibel übersetzt werden. Hier habe ich mich für die heutige, katholische Übersetzung entschieden, damit die obige Wortwahl »erschaffen« und die hier getroffene Wortwahl »ein Licht umstrahlend« zunächst übereinstimmend, gleichsam aus einem Guss, sind. Nach der lutherischen Bibel wären diese Worte mit »ein Licht umleuchtend« zu übersetzen.