Vortrag über Ethik: Difference between revisions

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Erlauben Sie mir zunächst, unser erstes Erlebnis des Erstaunens über die Existenz der Welt noch einmal in Betracht zu ziehen; und erlauben Sie mir, dies leicht anders zu beschreiben; im gewöhnlichen Leben wissen wir alle, was man als Wunder bezeichnen würde. Freilich ist es einfach ein Ereignis, dessen gleichen wir noch nie gesehen haben. Nun nehmen wir an, es hätte sich ein solches Ereignis zugetragen. Plötzlich wuchs einem von Ihnen ein Löwenkopf und er brüllte.<ref>''Anm. d. Übers.'': Vergleiche § 7 von Moores ''Principia Ethica'': »Wir können z. B. einem Menschen klarmachen, was eine Chimäre ist, obwohl er nie davon gehört oder eine gesehen hat. Wir können ihm sagen, daß es ein Tier mit Kopf und Körper einer Löwin ist […]« (Deutsch nach: G.E. Moore, ''Principia Ethica. Erweiterte Ausgabe.'' Übersetzt von Burkhard Wisser Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co., 1996., § 7 (Seite 37)).</ref> Etwas Außergewöhnlicheres kann ich mir kaum noch vorstellen. Sobald wir von unserer Überraschung erholt haben, wäre mein Vorschlag, einen Arzt zu holen und den Fall wissenschaftlich untersuchen zu lassen und diesen Menschen vivisezieren zu lassen, wenn es ihm nicht geschadet hätte. Und wo ist das Wunder jetzt hin? Denn es ist klar, dass bei dieser Betrachtungsweise alles Wunderbare verschwunden ist – soweit wir mit diesem Begriff nicht lediglich meinen, dass sich eine Tatsache noch nicht durch die Wissenschaft erklären lässt, was wiederum heißt, dass wir diese Tatsache bisher nicht mit weiteren Tatsachen in einem wissenschaftlichen System vereinbaren könnten. Dies zeigt die Absurdität der Behauptung, die Wissenschaft habe bewiesen, dass es keine Wunder gibt. Die Wahrheit ist, die wissenschaftliche Betrachtung einer Tatsache ist nicht für die Betrachtung einer Tatsache als Wunder geeignet. Denn es ist gleichgültig, welche Tatsache Sie sich vorstellen; sie ist nicht an sich wunderbar im absoluten Sinne dieses Begriffs. Hier sehen wir nun, dass wir das Wort »Wunder« in einem relativen und in einem absoluten Sinne verwendet haben. Und jetzt möchte ich das Erlebnis des Erstaunens über die Existenz der Welt so beschreiben: Es ist das Erlebnis, die Welt als Wunder zu sehen. Hier will ich sagen, dass der richtige, sprachliche Ausdruck für das Wunder der Existenz der Welt nicht in einem Satz in der Sprache liegt, sondern in der Existenz der Sprache selbst. Aber was heißt das, sich dieses Wunder nur zeitweise bewusst zu sein? Denn indem ich den Ausdruck des Wunderbaren von einem Ausdruck ''durch'' die Sprache auf den Ausdruck der ''Existenz der'' Sprache verschiebe, habe ich nichts anderes gesagt, als dass wir nicht das ausdrücken können, was wir ausdrücken wollen, und dass alles, was wir über das absolut Wunderbare sagen, Unsinn bleibt.
Erlauben Sie mir zunächst, unser erstes Erlebnis des Erstaunens über die Existenz der Welt noch einmal in Betracht zu ziehen; und erlauben Sie mir, dies leicht anders zu beschreiben; im gewöhnlichen Leben wissen wir alle, was man als Wunder bezeichnen würde. Freilich ist es einfach ein Ereignis, dessen gleichen wir noch nie gesehen haben. Nun nehmen wir an, es hätte sich ein solches Ereignis zugetragen. Plötzlich wuchs einem von Ihnen ein Löwenkopf und er brüllte.<ref>''Anm. d. Übers.'': Vergleiche § 7 von Moores ''Principia Ethica'': »Wir können z. B. einem Menschen klarmachen, was eine Chimäre ist, obwohl er nie davon gehört oder eine gesehen hat. Wir können ihm sagen, daß es ein Tier mit Kopf und Körper einer Löwin ist […]« (Deutsch nach: G.E. Moore, ''Principia Ethica. Erweiterte Ausgabe.'' Übersetzt von Burkhard Wisser Stuttgart: Philipp Reclam jun. GmbH & Co., 1996., § 7 (Seite 37)).</ref> Etwas Außergewöhnlicheres kann ich mir kaum noch vorstellen. Sobald wir von unserer Überraschung erholt haben, wäre mein Vorschlag, einen Arzt zu holen und den Fall wissenschaftlich untersuchen zu lassen und diesen Menschen vivisezieren zu lassen, wenn es ihm nicht geschadet hätte. Und wo ist das Wunder jetzt hin? Denn es ist klar, dass bei dieser Betrachtungsweise alles Wunderbare verschwunden ist – soweit wir mit diesem Begriff nicht lediglich meinen, dass sich eine Tatsache noch nicht durch die Wissenschaft erklären lässt, was wiederum heißt, dass wir diese Tatsache bisher nicht mit weiteren Tatsachen in einem wissenschaftlichen System vereinbaren könnten. Dies zeigt die Absurdität der Behauptung, die Wissenschaft habe bewiesen, dass es keine Wunder gibt. Die Wahrheit ist, die wissenschaftliche Betrachtung einer Tatsache ist nicht für die Betrachtung einer Tatsache als Wunder geeignet. Denn es ist gleichgültig, welche Tatsache Sie sich vorstellen; sie ist nicht an sich wunderbar im absoluten Sinne dieses Begriffs. Hier sehen wir nun, dass wir das Wort »Wunder« in einem relativen und in einem absoluten Sinne verwendet haben. Und jetzt möchte ich das Erlebnis des Erstaunens über die Existenz der Welt so beschreiben: Es ist das Erlebnis, die Welt als Wunder zu sehen. Hier will ich sagen, dass der richtige, sprachliche Ausdruck für das Wunder der Existenz der Welt nicht in einem Satz in der Sprache liegt, sondern in der Existenz der Sprache selbst. Aber was heißt das, sich dieses Wunder nur zeitweise bewusst zu sein? Denn indem ich den Ausdruck des Wunderbaren von einem Ausdruck ''durch'' die Sprache auf den Ausdruck der ''Existenz der'' Sprache verschiebe, habe ich nichts anderes gesagt, als dass wir nicht das ausdrücken können, was wir ausdrücken wollen, und dass alles, was wir über das absolut Wunderbare sagen, Unsinn bleibt.


Die Antwort auf das alles wird den meisten von Ihnen vollkommen klar sein. Sie werden sagen: Nun, wenn uns bestimmte Erlebnisse ständig versuchen, diesen eine Eigenschaft zuzuschreiben, die wir absoluten oder ethischen Wert bzw. absolute oder ethische Wichtigkeit nennen, so zeigt dies lediglich, dass wir mit diesen Worten ''nichts'' Unsinniges meinen – dass das, was wir schließlich meinen, wenn wir sagen, dass ein Erlebnis einen absoluten Wert hat, ''eine Tatsache ist wie andere Tatsachen'' ''auch'' und dass das alles nichts anderes bedeutet, als dass es uns noch nicht gelungen ist, die korrekte logische Analyse von dem gefunden zu haben, was wir mit unseren ethischen und religiösen Ausdrücken meinen. Bei diesem Einwand sehe ich sofort klar, gleichsam mich ein Licht umstrahlend, nicht nur, dass sich keine denkbare Beschreibung als Beschreibung dessen eignete, was ich mit absolutem Wert meine, sondern auch, dass ich ab initio aufgrund ihrer Sinnhaftigkeit jede sinnvolle Beschreibung, was immer man mir vorschlagen mag, ablehnen würde.<ref>''Anm. d. Übers''.: Die Worte »flash of light« (hier: »ein Licht umstrahlend«) sind wohl eine Anspielung auf die in der ''Apostelgeschichte'' beschriebenen Bekehrung des Saulus (9,3). Angesichts des in der vorstehenden Anmerkung 4 skizzierten Umstands und vorbehaltlich weiterer Forschung muss man eine Entscheidung treffen, ob die Worte »flash of light« nach der einheitlichen (katholischen) oder nach der lutherischen Bibel übersetzt werden. Hier habe ich mich für die heutige, katholische Übersetzung entschieden, damit die obige Wortwahl »erschaffen« und die hier getroffene Wortwahl »ein Licht umstrahlend« zunächst übereinstimmend, gleichsam aus einem Guss, sind. Nach der lutherischen Bibel wären diese Worte mit »ein Licht umleuchtend« zu übersetzen.</ref> Das heißt: Ich sehe jetzt, dass diese unsinnigen Ausdrücke nicht deswegen unsinnig waren, weil ich noch nicht die korrekten Ausdrücke gefunden habe, sondern dass ihrer Unsinnigkeit ihr Wesen war.
Die Antwort auf das alles wird den meisten von Ihnen vollkommen klar sein. Sie werden sagen: Nun, wenn uns bestimmte Erlebnisse ständig versuchen, diesen eine Eigenschaft zuzuschreiben, die wir absoluten oder ethischen Wert bzw. absolute oder ethische Wichtigkeit nennen, so zeigt dies lediglich, dass wir mit diesen Worten ''nichts'' Unsinniges meinen – dass das, was wir schließlich meinen, wenn wir sagen, dass ein Erlebnis einen absoluten Wert hat, ''eine Tatsache ist wie andere Tatsachen'' ''auch'' und dass das alles nichts anderes bedeutet, als dass es uns noch nicht gelungen ist, die korrekte logische Analyse von dem gefunden zu haben, was wir mit unseren ethischen und religiösen Ausdrücken meinen. Bei diesem Einwand sehe ich sofort klar, gleichsam mich ein Licht umstrahlend, nicht nur, dass sich keine denkbare Beschreibung als Beschreibung dessen eignete, was ich mit absolutem Wert meine, sondern auch, dass ich ab initio aufgrund ihrer Sinnhaftigkeit jede sinnvolle Beschreibung, was immer man mir vorschlagen mag, ablehnen würde.<ref>''Anm. d. Übers''.: Die Worte »flash of light« (hier: »ein Licht umstrahlend«) sind wohl eine Anspielung auf die in der ''Apostelgeschichte'' beschriebenen Bekehrung des Saulus (9,3). Angesichts des in der vorstehenden [[#cite_note-4|Anmerkung 4]] skizzierten Umstands und vorbehaltlich weiterer Forschung muss man eine Entscheidung treffen, ob die Worte »flash of light« nach der einheitlichen (katholischen) oder nach der lutherischen Bibel übersetzt werden. Hier habe ich mich für die heutige, katholische Übersetzung entschieden, damit die obige Wortwahl »erschaffen« und die hier getroffene Wortwahl »ein Licht umstrahlend« zunächst übereinstimmend, gleichsam aus einem Guss, sind. Nach der lutherischen Bibel wären diese Worte mit »ein Licht umleuchtend« zu übersetzen.</ref> Das heißt: Ich sehe jetzt, dass diese unsinnigen Ausdrücke nicht deswegen unsinnig waren, weil ich noch nicht die korrekten Ausdrücke gefunden habe, sondern dass ihrer Unsinnigkeit ihr Wesen war.


Denn durch sie wollte ich nur ''über die Welt hinausgehen''; das heißt: über die sinnvolle Sprache hinaus. Meine ganze Tendenz – und ich glaube, die Tendenz aller Menschen, die jemals versucht haben, über die Ethik oder Religion zu sprechen oder zu schreiben – bestand darin, gegen die Grenze der Sprache anzurennen. Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist vollkommen, absolut hoffnungslos. Die Ethik, sofern sie einem Wunsch entspringt, etwas über den endgültigen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann keine Wissenschaft sein. Was sie sagt, führt zu keinen neuen Erkenntnissen in irgendeinem Sinne. Aber sie ist ein Nachweis einer Tendenz im menschlichen Geiste, vor der ich für mein Teil nur den Hut ziehen kann und über die ich mich nie im Leben lustig machen würde.
Denn durch sie wollte ich nur ''über die Welt hinausgehen''; das heißt: über die sinnvolle Sprache hinaus. Meine ganze Tendenz – und ich glaube, die Tendenz aller Menschen, die jemals versucht haben, über die Ethik oder Religion zu sprechen oder zu schreiben – bestand darin, gegen die Grenze der Sprache anzurennen. Dieses Anrennen gegen die Wände unseres Käfigs ist vollkommen, absolut hoffnungslos. Die Ethik, sofern sie einem Wunsch entspringt, etwas über den endgültigen Sinn des Lebens, das absolut Gute, das absolut Wertvolle zu sagen, kann keine Wissenschaft sein. Was sie sagt, führt zu keinen neuen Erkenntnissen in irgendeinem Sinne. Aber sie ist ein Nachweis einer Tendenz im menschlichen Geiste, vor der ich für mein Teil nur den Hut ziehen kann und über die ich mich nie im Leben lustig machen würde.